Über einige Arbeiten von Uta Neumann
Uta Neumann lebt in einer großen Stadt. Andere große Städte hat sie besucht. Sie kennt Menschen. Menschen leben in Städten. Bei sich und außer sich.
Sie sieht das Rauschen der Menschen (und der Städte). Sie hört ihre Gefühle. Sie spürt ihr Wissen. Und das ist es, was sie fotografiert.
Dabei entstehen Bilder staunender Leere und schreiender Stille. Uta Neumanns Ansichten der Realität erscheinen wirklichkeitsgetreu und inszeniert zugleich. Der Grund ist wohl, dass sie den „fruchtbaren Augen-Blick“ beherrscht. Mit diesem Terminus hatte Gotthold Ephraim Lessing die Fähigkeit von Kunstschaffenden umschrieben, aus der „immer veränderlichen Natur“ für deren Darstellung in Bildwerken jenen „einzigen Gesichtspunkt“ zu wählen, der der „Einbildungskraft freies Spiel lässt“: „Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzudenken können. Je mehr wir dazudenken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.“
Lessing berücksichtigte bei seiner Entwicklung einer Theorie der transitorischen Bildsetzung nicht nur das Seh- und Gestaltungsvermögen der Künstler(innen), sondern auch die intellektuelle Leistung der Betrachter(innen), die über das schiere Ansehen weit hinauszureichen hat. Hierbei fallen die Ebene der Bildproduktion und die Ebene der Rezeption in eines. So auch in der Fotografie von Uta Neumann.
Im fruchtbaren Augenblick ihrer fotografischen Aufnahmen setzt Uta Neumann den Zeitfluss alles Seienden still (und auf Dauer) und erschafft auf diese Weise eine „ideale Zeit“ (Gottfried Boehm). So versteht sie vor allem ihre Porträtarbeiten als „Sinnbild unserer Erinnerungen und der Rotation unserer Gedanken“. Häufig stellt sie die Personen von ihrer gewohnten Umgebung frei und in eine mehr oder weniger abstrakte emotionale Ausnahmesituation hinein. Dort lässt die Fotografin archaische Gefühle zwischen Angst und Sehnsucht, Trauer und Besinnung, Kampf und Mut offensichtlich werden. Wie die Akteure antiker Tragödien oder sakraler Mysterienspiele können die Dargestellten mit Konflikten und Erwartungen beladen werden, die sie zu ambivalenten Stellvertretern zwischen Schönheit und Scheitern machen.
Dabei betrachten wir, die Betrachter, Betrachtende – denn auch die Porträtierten lassen ihre Blicke schweifen, nach außen oder nach innen. Unsere eigene Irritation angesichts der Irritierten lässt uns deren Rauschen als Schwebezustand der Orientierungslosigkeit in empathischer Übertragung erleben.
Ein ähnliches Zurück- bzw. Hineingeworfensein lassen auch die nüchtern und klar konzipierten Bildräume entvölkerter Interieurs empfinden. Die dominierenden perspektivischen Tiefenlinien entwickeln eine beklemmende Sogwirkung, werben unsere Blicke ein, und die Betrachter sehen sich Fragen ausgesetzt: „Was mache ich? Wo gehe ich hin? Gibt es ein Nachher?“ (Uta Neumann).
Auch die Städte, diese „Statuen aus Pflastersteinen“ (Uta Neumann), strecken ihre Fühler aus. Sie erscheinen als utopische Ornamente, als ortlose – weil überall wiederholbare – Muster. Daher spielt es keine Rolle, ob Uta Neumann in New York oder Berlin fotografiert. Sie zeigt Architektur und Bebauung als immerwährende Suche nach Ordnung. Eine Suche, die sich als vergeblich erweist, da diese Aufnahmen keinen Halt und keine Erholung bieten. Doch schimmert selbst im großen stillen Bild einer entwohnten Straße das erhabene Raunen ewiger Vergänglichkeit.
Und selbst in ihren vermeintlichen Naturansichten bringt die Lichtbildnerin Aspekte des Artefaktischen zur Geltung. Was wir als „natürliche“ Landschaft zu betrachten gewohnt sind, ist dem Wortsinn nach bereits eine Kulturleistung. In dem Begriff Landschaft verbirgt sich das Zeitwort schaffen. Schaffen bedeutete ursprünglich: eine Ordnung herstellen. Landschaft ist nicht einfach „da“; der Mensch erzeugt sie schaffend und verwandelt sie sich erst in einem zweiten Schritt zum ästhetischen Wahrnehmungsgegenstand. In seinem legendären Essay zum Thema Landschaft schrieb der Philosoph Joachim Ritter: „der Naturgenuß und die ästhetische Zuwendung zur Natur setzen die Freiheit und die gesellschaftliche Herrschaft über die Natur voraus. [...] Daher kann es Natur als Landschaft nur unter der Bedingung der Freiheit auf dem Boden der modernen Gesellschaft geben“, d.h. vor allem im Zusammenhang mit einer rapiden Stadtentwicklung seit dem Spätmittelalter. So sind formale Korrespondenzen zwischen Landschaftsbild und Stadtvedute im Werk von Uta Neumann keinesfalls „zufällig“: „Wir bauen uns unsere eigenen Berge. Berge, die wir bezwingen können. Liegt da vielleicht auch der Wunsch zugrunde, sich die Natur untertan zu machen, so ist sie doch als Landschaft des menschlichen Wollens und Wachsens, als Landschaft unseres Tuns und Handelns, unseres Seins zu verstehen und ist somit auch als Landschaft unseres Vergehens und Sterbens zu betrachten.“ (Uta Neumann)
Uta Neumanns Bilder, ob sie nun Menschen oder entvölkerte Architektur oder weite Landschaft zeigen, sind nie an ihren Rändern zu Ende. Sie reichen örtlich und zeitlich über sich selbst weit hinaus. Die Fotografin bietet Anhaltspunkte, die uns vertraut genug sind, um mehr hinzudenken und mehr sehen zu müssen.
Wir sehen und rauschen. Wir können nicht anders.
Anna Zika
Vgl. G. E. Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766), § III
Joachim Ritter, Landschaft zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. Münster 1963, S. 30.